Schmerz

Der Schmerz bleibt über Nacht. Während er tagsüber mit einem miesen Spannen in der Kniekehle jeden Schritt hemmt, versucht Kerstin im Bett vergeblich eine Position zu finden, wo das geschwollene Knie nicht drückt und sticht. Als sei eine harte Kugel ins Gelenk eingelassen, zu groß für die Kapsel, mit nervösen Ausstrahlungen bis in den Spann. Jede Streckung des Beines kann zu einem Krampf der Wadenmuskulatur führen. So fällt es ihr schwer, den ersehnten Schlaf zu begrüßen, auch im Liegen wird der Leib zur Last.

Der Pschyrembel definiert den Schmerz als „unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktuellen oder potentiellen Gewebeschädigungen verknüpft ist“. Kerstin ergänzt: Der Schmerz ist eine Demütigung, sie empört sich über ihre Schwäche, er nimmt über Gebühr Raum in ihrem Leben ein. Er erinnert sie daran, dass ihre Mobilität und ihre Selbstbestimmung ein schnelles Ende finden können; mit schwankender Heftigkeit erschwert er die Fortsetzung des Alltags. Treppensteigen, Einkäufe und Toilettengänge können zu Expeditionen werden, die mentale Konzentration und Arbeitsfähigkeit zu halten gerät zur Herausforderung.

Gegebenenfalls greift Kerstin zu Tilidin, einem Opioid mit der Potenz von etwa 0,4 im Vergleich zu Morphin. Es blockiert an den schmerzleitenden Strukturen im Rückenmark und im Hirn die entsprechenden Rezeptoren und hebt das Schmerzempfinden auf. In Form einer Retardtablette wird die erlösende Substanz über einen Zeitraum von rund zwölf Stunden gleichmäßig im Organismus freigesetzt. Abends spürt Kerstin neben dem Verblassen des Reißens eine milde Euphorie bei febrilem Schwindel, nachts bleibt sie von Albträumen verschont, der Morgen beginnt im Drogenschatten. Der Name des Morphins, Anfang des 19. Jahrhunderts synthetisiert, geht zurück auf Morpheus, in der griechischen Mythologie der Gott des Traumes und Sohn des Hypnos, des Gottes des Schlafes.

Dank des Fortschritts der modernen Medizin und der Pharmakologie liegt heute eine breite Palette an Medikamenten für jede Einsatztiefe vor, chirurgische Eingriffe am anästhesierten Patienten sind Routine. Ungeachtet seiner symptomatischen Betäubung bleibt der Schmerz ein konstituierendes Element des Lebens, er ist eine für das Überleben wichtigte Sinneswahrnehmung. Er gilt im medizinischen Krankheitsmodell als Signal einer physischen Schädigung, verlässlich stoppt er ein Verhalten, das den Defekt etwa nach einer Verletzung noch vergrößerte. Dabei kann der Schmerz als Ausdruck eines Grundleidens auftreten oder als chronische Erscheinung selbst eine pathologische Qualität entwickeln.

Der Schmerz an sich ist unsichtbar – das verzerrte Gesicht, das Stöhnen, die Wunde, das Blut, die Narbe, die abnormen Werte im Labor, die Erstarrung, die Tränen verweisen lediglich auf ihn. Der Umstand, dass Analgetika in differenten Stärken verfügbar sind, provoziert das trügerische Selbstbild des heutigen Menschen, unangreifbar zu sein, als habe er in Drachenblut gebadet. Im Wort „peinlich“ schwingt das aggressive Berührtsein über den offenen Schmerz eines Dritten mit: „Wie seltsam, die Lebensscham der Kreatur, die sich in ein Versteck schleicht, um zu verenden – überzeugt, daß sie in der Natur draußen keinerlei Achtung und Pietät vor ihrem Leiden und Sterben zu gewärtigen hat, überzeugt hiervon mit Recht, da ja die Schar der schwingenfrohen Vögel den kranken Genossen nicht nur nicht ehrt, sondern ihn in Wut und Verachtung mit Schnabelhieben traktiert.“ schreibt Thomas Mann im „Zauberberg“.

Das Schicksal der Passion trifft Jesus Christus, der Kruzifixus ist das stärkste Bild des christlichen Glaubens. Zu seiner Zeit im Römischen Reich war die Kreuzigung eine besonders grausame Art der Hinrichtung, die als Schauspiel vollstreckt wurde. Der Verurteilte hing 48 Stunden oder länger am Holz, bis seine letzten Kräfte versagten und seine Schultern den verspannten Rumpf nicht länger halten konnten, er nach vorn kippte und elend erstickte. Krämpfe, Durst, Hitze und Fliegen machten die Kreuzigung zu einer perfiden Tortur; zur Beschleunigung des Sterbens wurden den Verurteilten manchmal die Schienbeine gebrochen, sodass die Knochen den Oberkörper nicht mehr stützen konnten, dieser nach vorn sank und der Lungenkollaps begann.

Diese abschreckende Tötungspraxis galt im Römischen Reich bis zum Beginn des vierten Jahrhunderts, als Kaiser Konstantin nach seiner Bekehrung das Christentum zur Staatsreligion erhob. Den schändlich Gemarterten beten die Christen (m/w/d) als ihren Erlöser an. Die katholische Malerei des Mittelalters stellt Jesus bevorzugt als Schmerzensmann dar, hilflos am Balken, blutend mit Dornenkrone, vom Pöbel verspottet. Seinen Kreuzweg durch die Via Dolorosa nach Golgatha begehen sie jedes Jahr zu Ostern. Als Mensch ist er dem Sterben ausgeliefert, als Gott ersteht er aus dem Grab. Seine Wunden verbirgt er nicht, sondern hält sie als Ausweis des Wunders den ungläubigen Aposteln hin. In der Feier des Schmerzes und seiner Überwindung liegt das Revolutionäre des Christentums – credo quia absurdum.

Kerstins irdischer Schmerz rührt von einer fortgeschrittenen Gonarthrose her. Sie hat das Spektrum der konservativen Therapie durchmessen, von der Akupunktur und der Injektion entzündungshemmenden Kortisons über Einlagen zur Achsenkorrektur und Gymnastik zur Kräftigung der Muskulatur bis zur Bandagierung der lädierten Struktur und regelmäßiger Kühlung. Die Perspektive einer Prothese erscheint ihr erniedrigend, als ein Schritt über die Grenze des Alters zur Behinderung. Die Aussicht auf ein Nachlassen des Schmerzes lockt zwar, das Risiko einer Infektion und Versteifung des künstlichen Knies aber droht und lässt sie Vergessen im Tilidin suchen. Gäbe es doch nur die Hoffnung, nach einer Operation wieder unbeschwert im Wald laufen zu können.

Extremer Schmerz unter der Folter, beim Tumordurchbruch oder während der Wehen lässt dem Menschen nur noch den Schrei. Diesen Grad kennt Kerstin noch nicht, allerdings ist ihr Schmerz Dauergast im Kopf. Ihre Strategie zur Bewältigung heißt Kompensation: Sie trägt keine hohen Absätze, vermeidet das Schleppen schwerer Lasten, hält ihr geringes Gewicht, schwimmt und fährt Rad ohne Stoßbelastung der Knie. Sie lächelt, wenn nach einer Ausdauereinheit im Sattel oder im Becken die Endorphine fluten. Sie visualisiert die heilende Intelligenz ihres verkrüppelten Beines, das ihr einen fließenden Gang und eine aufrechte Haltung geben möge. Sie will sich der Welt nicht als leichte Beute zeigen, den Schmerz atmet sie ab.

Verkehrswende

Werden im Frühling die Tage länger und die Temperaturen milder, steigt auch die Zahl der Radfahrer (m/w/d) auf den Straßen; Jahr für Jahr werden es mehr. Eine erfreuliche Entwicklung, allerdings fehlt vielerorts die einladende Infrastruktur in Form geeigneter Radwege, ausreichender Fahrradabstellplätze und priorisierter Ampelschaltungen. Sportlich orientierte Pendler treffen auf junge Eltern mit ihren voluminösen Cargobikes, unsichere Senioren mit ihren schubfesten Pedelecs auf Gelegenheitsradler. Sie alle sind einem Verkehr ausgesetzt, der seit den 1960er Jahren als autogerecht definiert wird – auf dem Rad erleben sie sich mitunter als bewegliche Ziele der Gasfüße. Soll die vielfach beschworene Verkehrswende mehr sein als ein unverbindliches Versprechen, muss die Politik den Radverkehr entschlossen fördern.

Dass es beim Klimaschutz nicht beim beschwichtigenden laisser faire bleiben kann, zeigt die surreale Aufmerksamkeit, die die jugendliche Aktivistin Greta Thunberg aus Schweden derzeit in Europa wie in Übersee genießt. Sie mahnt die politisch Verantwortlichen, endlich Konsequenzen aus den seit Langem vorliegenden Ergebnissen wissenschaftlicher Forschungen zum anthropogenen Klimawandel zu ziehen. Wenn die Industrienation Deutschland ihr in globalen Abkommen beschlossenes Ziel einer drastischen Reduzierung der CO2– und NOx-Emissionen erreichen will, muss der motorisierte Individualverkehr zurückgefahren werden. Die Städte sind reif dafür, private PKW aus ihren Zentren zu verbannen.

Dabei tritt die Politik keinesfalls als Treiber der Verkehrswende auf. Es sind vielmehr Vereine, NGO und agile Unternehmen, die sich für eine bessere Ausstattung des Radverkehrs einsetzen. Das im Juli 2018 nach professioneller PR von unten in Kraft getretene Berliner Mobilitätsgesetz soll den modal split der Hauptstadt zugunsten des Radverkehrs, des ÖPNV und des Fußverkehrs ändern. Umfallträchtige Straßenkreuzungen sollen für Radfahrer sicherer gemacht werden. Allerdings vermeidet dieses Gesetz das Stellen und das Beantworten der Frage, wie der endliche Platz der Stadt zwischen Radfahrern, Fußgängern, Bussen und Autos neu verteilt werden kann. Der Radverkehrsanteil im öffentlichen Raum soll „wahrnehmbar deutlich“ steigen, für konkrete Ziele und Maßnahmen wird auf den noch zu schaffenden Radverkehrsplan verwiesen.

Auch in der Justiz dreht sich der Wind. So hat das Landgericht Berlin kürzlich in zweiter Instanz zwei junge Männer wegen Mordes zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt (Aktenzeichen: 532 Ks 9/18). Die beiden hatten sich des Nachts in der City mit ihren Sportwagen ein Rennen geliefert, kamen dabei auf eine Spitzengeschwindigkeit von rund 170 km/h, überfuhren etliche rote Ampeln und nahmen beim Zusammenstoß mit einem dritten Auto einem Unbeteiligten das Leben. Das Töten eines Menschen im Straßenverkehr wird nicht länger als lässliche Sünde hingenommen, es wird gegebenenfalls als Straftat geahndet. Eine private Initiative strebt gar die Errichtung eines Mahnmals für die rund 700.000 Verkehrstoten in Deutschland seit 1950 an, um auf die eingepreisten obszönen Kosten der Automobilität hinzuweisen.

Unter Stadtplanern herrscht längst Einigkeit: Wenn man die Bevölkerung einer Großstadt dazu animieren möchte, (häufiger) das Fahrrad zu nutzen, muss man das entsprechende Straßenland in Form ordentlicher Radwege und sicherer Abstellmöglichkeiten vorhalten. Dann lassen sich auch Menschen zum Radfahren bewegen, denen es bislang schlicht zu gefährlich ist: Frauen, Ältere, Kinder, Ungeübte. Die Frage des Angebots einer geeigneten Infrastruktur ist im Kern eine Frage der Konkurrenz um Fläche: Soll der begrenzte öffentliche Raum für kostenloses Parken oder für breite Radwege verwendet werden? An diesen Konflikt mit der Autolobby traut sich in Deutschland niemand heran, der politisch noch etwas werden will.

Der Bedarf an zivilem Aktivismus wird bestehen bleiben, um den Wandel der Stadt hin zu mehr Grün, weniger Lärm, besserer Atemluft und höherer Lebensqualität zu begleiten. Die antiquierte Autokultur steht der Verkehrswende im Weg; hier einen Paradigmenwechsel durchzusetzen, ist neben einem Wachsen des gesellschaftlichen Bewusstseins für seine Notwendigkeit eine Frage des politischen Willens. Was in den Niederlanden oder in Skandinavien seit Jahren Alltag ist, liest sich in der Daimlerrepublik, wo sich ein grüner Ministerpräsident vehement gegen Dieselfahrverbote zum Durchsetzen kommunaler Luftreinhaltepläne stemmt, revolutionär. Der Markt wird es ebenso wenig regeln wie eine veränderungsresistente Verwaltung; gottlob reagieren die Menschen auf pragmatische Gebote souveräner, als es ängstliche Amtsträger beschwören. Heute scheint es kaum vorstellbar, dass vor 15 Jahren in Restaurants noch geraucht wurde – ein Gesetz auf der Höhe der Zeit beendete diesen unseligen Zustand.

Die Verkehrswende ist mehr als autonomes Fahren, Elektroantrieb und Digitalisierung. Sie beinhaltet ein Ende der Subvention des Diesel bei gleichzeitiger Investition in den öffentlichen Nah- und Fernverkehr. Sie suspendiert das überholte Dienstwagenprivileg, das diesem Land den Flächenfraß samt Dauerstau beschert, und denkt berufliche wie private Mobilität in Ketten, Hubs und Budgets. Sie sieht sozialen Fortschritt nicht primär in Ingenieurslösungen, sondern in persönlicher Teilhabe und individueller Verantwortung. Der emergierende Radverkehr ist da nur ein Indikator für das Funktionieren urbaner Mobilität im 21. Jahrhundert, die aus aggressiven Metropolen „Städte für Menschen“ (Jan Gehl) macht. Das mag für deutsche Ohren utopisch klingen, ein Blick nach Amsterdam, Utrecht, Kopenhagen oder Helsinki zeigt, wie daraus Realität werden kann.

Bachmann

Die Gedichtbände „Die gestundete Zeit“ und „Anrufung des Großen Bären“ haben den Ruhm Ingeborg Bachmanns (1926 – 1973) begründet; aus dem niederösterreichischen Klagenfurt zog es sie zeitlebens nach Italien, ihr „erstgeborenes Land“. Bachmann war eine von der Philosophie inspirierte Dichterin und kleidete Fragen nach der Existenz in Verse, getreu ihrer Überzeugung: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.

Die frühen Jahre der Bundesrepublik Deutschland standen im Zeichen des Wiederaufbaus und des entschlossenen Verdrängens des III. Reiches, kulturell war die Ära Adenauer ausgesprochen restaurativ. In den Kinos liefen Heimatfilme à la „Grün ist die Heide“ und „Der Förster vom Silberwald“, die erste Documenta 1955 in Kassel suchte zaghaft Anschluss an die Moderne der Bildenden Kunst. In diesem Biedermeier wirkte der Auftritt der österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann wie eine Erscheinung. Ihre Lyrik kam vorbildlos daher, schien die Grenzen des Sagbaren zu überschreiten; deutlich erkennbar war Bachmanns Abkunft vom Lied, wollte sie doch ursprünglich Komponistin werden: „Für mich ist Musik größer als alles, was es gibt an Ausdruck. Dort haben die Menschen das erreicht, was wir durch Worte und Bilder nicht erreichen können.“

Ingeborg Bachmann wurde 1926 in Klagenfurt als erstes von drei Kindern geboren. Ihr Vater, ein Schuldirektor, trat 1932 in die NSDAP ein, die Mutter war Hausfrau. Sie machte 1944 ihre Matura und begann im Jahr darauf in Wien und Graz ihre Studien der Philosophie, Germanistik, Psychologie und Rechtswissenschaften, die sie 1950 mit einer Promotion über Martin Heidegger abschloss. 1946 konnte sie die Erzählung „Die Fähre“ in der Kärntner Illustrierten veröffentlichen, nach dem Studium arbeitete sie in Wien als Rundfunkredakteurin. Als Lyrikerin debütierte Ingeborg Bachmann 1953 mit dem Band „Die gestundete Zeit“, für den sie den Preis der „Gruppe 47“ bekommen hatte.

Bachmann wurde in der Folge, in den Worten eines Kritikers, „zu einer Art Fetisch der Gruppe 47“, dem maßgeblichen literarischen Forum jener Jahre. 1958 veröffentlichte sie die Gedichtsammlung „Anrufung des Großen Bären“; 1959 wurde ihr der Hörspielpreis der Kriegsblinden für ihr Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ verliehen. Mit dem Erzählband „Das dreißigste Jahr“ von 1961 erfolgte die Hinwendung zur Prosa, 1964 wurde sie mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet. Ab 1965 lebte sie nach Jahren der Vagabondage in Rom, wo sie 1973 ums Leben kam. Mit einer brennenden Zigarette im Bett eingeschlafen, fing ihr Nachthemd Feuer, sie wurde mit Verbrennungen dritten Grades in die Klinik eingeliefert. Todesursächlich war ihre schwere Abhängigkeit von Barbituraten, die die behandelnden Ärzte nicht gleich erkannten und deren Entzug zu heftigen Konvulsionen führte. Ingeborg Bachmann liegt begraben in ihrer Geburtsstadt Klagenfurt, seit 1977 wird hier der nach ihr benannte Lesewettbewerb veranstaltet.

Zum gleichaltrigen Komponisten Hans Werner Henze pflegte sie „die wichtigste menschliche Beziehung, die ich habe“. Henze lebte seit den frühen 1950er Jahren auf Ischia resp. in Neapel, wo Bachmann zeitweilig mit ihm einen Haushalt teilte. „Die Wohnung in Neapel kann man ansehen als einen Versuch der Festmachung, als ein Surrogat für Verlöbnis und Ehestand“, wie Henze anlässlich der Herausgabe des Briefwechsels zwischen den beiden notierte. Bachmanns Wunsch nach einer realen Heirat fand indes keine Entsprechung beim schwulen Henze, für den sie keine Trophäe war, sondern eine Gefährtin. Gerade deshalb führten die beiden neben ihrer Freundschaft eine Jahrzehnte dauernde Arbeitsbeziehung; so schrieb Ingeborg Bachmann für Henzes Opern „Der Prinz von Homburg“ und „Der junge Lord“ die Libretti sowie für sein Ballett „Der Idiot“ einen Monolog.

Der Deutsche Henze verzweifelte am reaktionären Kurs der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik 1956, der ihn in Italien bleiben ließ; die Österreicherin Bachmann engagierte sich im Wahlkampf für den Sozialdemokraten Willy Brandt. In den Briefen berichteten sie einander von den jeweiligen künstlerischen Projekten und über Klatsch im Kulturbetrieb, über die Rezeption durch Kritik und Publikum. Vor allem spendeten sie sich Mut und Trost: „Liberta! Bellezza! Cantare! Non per paura, ma per vita!“ In Italien, dem transalpinen Projektionsland par excellence, kam Bachmann an, hier fand sie Freiheit und Muße zum Arbeiten: „Gelernt habe ich etwas von den Italienern, das ist schwer zu erklären. Denn man kann von ihnen etwas lernen, wenn man alles wegwirft, jede Vorstellung, die man sich vorher gemacht hat davon. Es sind nicht die Schönheiten, nicht die Orangenbäume und nicht die herrliche Architektur, sondern die Art zu leben.“

Bachmanns sprachliche Welt ist eigentümlich abstrakt und zugleich nahbar, voller durchaus schöner Metaphern; manche Worte scheinen um des starken Schalles Willen gesetzt, wie sich wiederholende Silben einer monotonen Beschwörung. Und doch ist ihre intellektuelle Poesie nicht nur um ihrer selbst da, sie liefert immer wieder Beispiele tiefer Klarheit, wie ihre weisen „Lieder auf der Flucht“ (1958), von ihrem Seelenverwandten Hans Werner Henze vertont: „Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen, / die Zeit und die Zeit danach. / Wir haben keinen. // Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen. / Doch das Lied überm Staub danach / wird uns übersteigen.“

Ingeborg Bachmann hat zeit ihres Lebens das Bild des scheuen Rehs kultiviert. Dem wiederkehrenden Liebesversagen begegnete sie intuitiv mit dem von Henze vorgeschlagenen Rezept: „Die vielen schlimmen Traurigkeiten und Einsamkeiten, die kann man nur ertragen, indem man arbeitet (im Dunkel singt) und sich selbst weitgehend ignoriert.“ Die Heutigen finden in der Poesie Bachmanns Anker in Stunden der Melancholie und des Abschieds, einen Grundton im Selbstgespräch des Lesens und Schreibens. Man muss sich nur die Zeit nehmen und ihre Gedichte lesen, so wie man die Lieder Franz Schuberts hört oder die Gemälde Vilhelm Hammershøis betrachtet, offen für die Stille der Welt.

Gessen

Gemäß der Verfassung von 1993 ist das postsowjetische Russland eine Präsidialdemokratie. Der Präsident wird vom Volk direkt gewählt, ebenso die Abgeordneten der Duma, des Unterhauses. Die zweite Kammer des Parlaments, der Föderationsrat, wird bestückt mit Vertretern der Teilrepubliken, der Regionen, der oblasti und der großen Städte. Dem Staatsoberhaupt, das die Leitlinien der Innen-, Außen- und Sicherheitspolitik bestimmt, kommt in diesem System eine Machtfülle à la Bonaparte zu. Seit dem Amtsantritt Wladimir Putins im Jahr 2000 befindet sich Russland nach Ansicht vieler Beobachter auf dem Weg in eine Diktatur. Die Journalistin Masha Gessen diskutiert in ihrem neuen Buch, wie nach dem Kollaps der UdSSR „Russland die Freiheit gewann und verlor“.

Masha Gessen wurde 1967 in Moskau geboren. 1981 wanderte ihre Familie in die USA aus; sie studierte einige Semester Architektur und begann als Journalistin zu arbeiten. 1994 kehrte sie nach Russland zurück und schrieb von Moskau aus für russische und amerikanische Medien, 2013 remigrierte sie wegen der homophoben Gesetzgebung der russischen Regierung mit ihrer Frau und den Kindern nach New York. Die jüdische linksliberale Autorin hat neben dem russischen auch den US-Pass, sie publiziert weiter zur russischen Politik und Kultur, etwa im New Yorker. Für ihr Buch „Die Zukunft ist Geschichte“ wurde sie 2019 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnet.

Gessen stellt die Frage, wie es nach dem Ende der Sowjetunion, das den Genossen des untergegangenen Imperiums bislang unbekannte persönliche und politische Freiheiten brachte, im neuen Russland zur Restauration einer autoritären Ordnung kommen konnte. Im US-Original des Buches spricht sie davon, „how Totalitarianism reclaimed Russia“. Sie lässt beispielhaft vier Personen (und deren Familien) erzählen, die Mitte der 1980er Jahre als Kinder des Übergangs geboren wurden. Zusätzlich zitiert sie aus den Erinnerungen eines hohen Kaders, eines Meinungsforschers und einer Psychoanalytikerin. In der Summe legt Gessen einen Hybriden aus fact und fiction vor: Sie präsentiert die parallel montierten Geschichten ihrer Gesprächspartner (m/w/d) in Romanform, reichert sie mit Daten zur jüngeren russischen Geschichte an und deutet diese vor der Folie der Totalitarismus-Theorie Hannah Arendts.

Die seelischen Defekte des Homo Sovieticus, dem „der Glaube an den paternalistischen Staat und die völlige Abhängigkeit (…) in die Wiege gelegt (wurden)“, rekonstruiert Gessen entlang der Neufassung des akademischen Lebens nach 1991. Während die Ingenieurs- und Naturwissenschaften mit ihrer Verwertbarkeit für die Industrie, die Landwirtschaft, das Militär und die Raumfahrt in der Sowjetunion großzügig gefördert wurden, verkümmerten die Geistes- und Sozialwissenschaften. Zur Erklärung gesellschaftlicher und historischer Prozesse wurde die Ideologie des Marxismus-Leninismus herangezogen, an einer empirisch arbeitenden Soziologie oder Politologie bestand ebenso wenig Bedarf wie an einer reflektierenden Philosophie oder Psychologie. Mangelnde Fremdsprachenkenntnisse selbst der Elite und eine Abschottung gegenüber dem kapitalistischen Ausland standen einer Beteiligung am internationalen wissenschaftlichen Diskurs zusätzlich im Wege.

Analog zur weißrussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch mit ihrer dramaturgisch verfremdeten Prosa der oral history zum Leben auf den Trümmern des Sozialismus lässt Gessen etliche Personen mit ihren Erfahrungen zu Wort kommen, um ein detailliertes Bild der Transition vom Plan zum Markt zu zeichnen. Allerdings spricht Gessen bevorzugt mit urbanen, westlich orientierten Intellektuellen und privilegierten Abkömmlingen der Nomenklatura; einfache Menschen, Repräsentanten der Mehrheit der Bevölkerung kommen in diesem Chor nicht vor. Darin liegt die methodische Schwäche des Buches, das ignoriert, dass es in Russland weiterhin eine deutliche Zustimmung für Wladimir Putin gibt, die nicht allein durch Personenkult und Propaganda zu erklären ist.

Putin hat sich gleich zu Beginn seiner Amtszeit großen Respekt im Volk erworben, als er den Einfluss der Oligarchen aus der Jelzin-Ära auf die Politik abstellte, wenn auch mit rechtsstaatlich fragwürdigen Mitteln. Bereits in seiner Probezeit als Ministerpräsident 1999 konnte er sich als erbarmungsloser Kämpfer gegen tschetschenische Terroristen profilieren. Des Weiteren knüpfte er an hohe sowjetische Feiertage an wie den Tag des Sieges im Großen Vaterländischen Krieg und reanimierte dergestalt die beschädigte Identität Russlands. Zum Glück für ihn stieg das Konsumniveau in den 2000er Jahren stetig, breiten Schichten wurden Autos, Unterhaltungselektronik, Markenkleidung und Urlaubsreisen zugänglich – politische Loyalität gegen die Befriedigung materieller Bedürfnisse.

Offensichtlich gelingt es dem ehemaligen Chef des Geheimdienstes FSB, den Bürgern, die die 1990er Jahre mit der unkontrollierten Privatisierung der Staatskonzerne, verbreiteter Kriminalität, hoher Arbeitslosigkeit und Inflation als Trauma erlebt haben, ein hegendes Gefühl der Sicherheit und Stabilität zu geben – um den Preis der Friedhofsruhe eines Polizeistaates. Dass er sich dabei eines aggressiven Nationalismus bedient, mit seinen Kritikern gewaltsam umspringt und ehemaligen Sowjetrepubliken mit Krieg droht, scheint die Mehrheit der Russen (m/w/d) resigniert zu ertragen. Die offizielle Hetze gegen Schwule, Lesben und Transgender, die in einem absurden Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ kulminiert, passt in das Muster der Demonstration patriarchaler Stärke, die auch als Abkehr von Europa zu verstehen ist.

Masha Gessens Interviewpartner tun es der Autorin gleich: Sie verlassen ihr Land, in dem sie keine persönliche Zukunft mehr sehen. Offen bleibt, was nach 2024 passieren wird, wenn Putins vierte Legislatur im Kreml endet. Wird eine erneute Rochade zwischen Dmitri Medwedew und ihm die Stagnation der „erstickten Demokratie“ (Manfred Hildermeier) verlängern, oder wird ein postsowjetischer Mikhail Gorbatschow mit einer Perestroika 2.0 das weite Land von den Nachwehen des imperial overstretch befreien? Vielleicht muss eine komplett neurussisch sozialisierte Generation an die einflussreichen Stellen der Gesellschaft geraten, um mit der unterstellten Tradition der Sehnsucht nach einem starken Staat zu brechen. Dann hätte Russland womöglich eine zweite Chance auf den Gewinn der Freiheit – es wäre ein Novum in der Geschichte des Riesenreiches.

Fischer

Auch jene Menschen, die sich nicht für Schach interessieren, werden zumindest von ihm gehört haben. Anfang der 1970er Jahre war Bobby Fischer der unbestritten stärkste Spieler der Welt, im sogenannten Match des Jahrhunderts eroberte er in Reykjavik 1972 den Titel des Schachweltmeisters. Mit seinem energischen wie launischen Auftreten hat Fischer viel zur Popularisierung des Schachs beigetragen, er gilt als sein erster moderner Profi.

Robert James „Bobby“ Fischer wurde am 9. März 1943 in Chicago geboren, seinen Vater hat er nie kennengelernt. Seine Mutter Regina hatte in den 1930er Jahren in Moskau Medizin studiert, sie ernährte ihre Kinder Joan und Bobby alleinerziehend als Krankenschwester. Im Alter von sechs Jahren lernte Bobby, mittlerweile in New York lebend, die Regeln des Schachspiels von seiner älteren Schwester. Er versenkte sich völlig in die Welt der 64 Felder und zählte bereits als Jugendlicher zur Elite der USA. Mit 15 Jahren war er mehrfacher Landesmeister und wurde vom Weltschachbund FIDE mit dem Titel eines Internationalen Großmeisters ausgezeichnet; mit 16 Jahren verließ er die High School ohne Abschluss, da sie ihm nicht dabei helfen könne, Schachweltmeister zu werden.

Dass er dieses Ziel erst mit 29 Jahren erreichte, lag nicht nur an der Stärke seiner Konkurrenten, sondern vor allem an seinem asozialen Charakter. Als junger Mann genoss er den Ruhm, der mit seinen Siegen einherging, zugleich behandelte er Funktionäre, Sponsoren, Journalisten und Kollegen divenhaft beleidigend. Er forderte hohe Antrittsgagen, brach schon mal ein Turnier aus einer Stimmung heraus ab, trat einer obskuren evangelikalen Sekte bei, zog sich für Jahre vom Wettkampfschach zurück und hielt sich trotzdem für den besten Spieler seiner Zeit. 1970ff. trat er dann den Beweis an. Er gewann die Ausscheidungsmatches mit einer bis dahin unbekannten Souveränitat und entriss dem Weltmeister Boris Spasski auf spektakuläre Weise die Krone.

Dieser Triumph wurde zum Auftakt einer Tragödie. Anstatt, wie großspurig angekündigt, ein spielender Champion zu werden, tauchte Bobby unter, lehnte märchenhaft dotierte Werbeofferten ab, spielte keine Turnierpartie mehr und verlor 1975 den Titel wegen Nichtantritts zum Match gegen Anatoli Karpow. Erst 1992 gab er sein Eremitendasein in Kalifornien für ein sportlich belangloses Revanchematch gegen Boris Spasski auf, aus schierem Geldmangel. Da der Wettkampf während des Jugoslawienkriegs in Belgrad ausgetragen wurde, verstieß Fischer gegen die US-Sanktionen und wurde so zum gesuchten Kriminellen. Er vagabundierte durch Asien und meldete sich am 11. September 2001 mit Worten des Jubels über die Anschläge auf das World Trade Center zurück. 2004 wurde er in Tokio verhaftet, weil sein Pass von den US-Behörden für ungültig erklärt worden war. Aus dem schlanken schönen Jüngling im schmalen Anzug war ein verwahrloster dicker Greis in speckigen Jeans geworden. Island gewährte dem Staatenlosen Asyl, er starb am 17. Januar 2008 in Reykjavik an Nierenversagen.

Wer heute noch (zurecht) von Bobby Fischers sagenhaftem Schach schwärmt, kann zu seinem kranken Verhalten nicht schweigen. Kaum ein Spieler in der Geschichte des Schachs hat sich so hemmungslos den 32 Figuren hingegeben. Dabei war Fischer Autodidakt, systematisches Training genoss er nur als Kind, ab und an beschäftigte er Sekundanten zur Unterstützung der Analyse. Er brachte sich Russisch bei, um die wichtigen sowjetischen Zeitschriften zu Eröffnungen lesen zu können. Seine Manie dem Schach gegenüber, die durch ein mutmaßliches Asperger-Syndrom begünstigt wurde, ließ ihn blind für die meist komplexen Zusammenhänge des Lebens werden. So äußerte sich Fischer, wiewohl selbst jüdischer Herkunft, zunächst milde, in späteren Jahren aggressiv antisemitisch. Er las neben den Tarzan-Comics auch Mein Kampf, dieses Buch grandios als seriöse Quelle missverstehend.

Fischers höchste Elozahl von 2785 aus dem Jahr 1972 wurde erst Mitte der 1980er Jahre von Garri Kasparow übertroffen. Am Brett zeichnete er sich durch einen unbändigen Siegeswillen aus, Kurzremisen wie unter Großmeistern üblich, kamen bei ihm kaum vor. Es liegt nahe, Fischers Killerinstinkt während der Partie aus psychoanalytischer Perspektive auf seinen abwesenden Vater und sein verkrampftes Verhältnis zu Frauen zurückzuführen; er schuf bestechende Stellungen am Brett und zielte nach eigener Aussage auf die Zerstörung des Egos seines Kontrahenten. Seine Virtuosität erreichte Fischer im Endspiel, im Umgang mit dem reduzierten Material zeigte sich sein mathematischer Zugang zum Spiel besonders klar. Zahlreiche seiner Endspiele sind zu Klassikern der Lehrbücher geworden, seine Gewinnführung wird von heutigen Computern bestätigt.

Der Mythos Fischer lebt nicht zuletzt vor der Folie des Kalten Krieges. Er wurde zum einsamen Kämpfer politisiert, der sich einer ganzen Armee entgegenstellte. Seit dem II. Weltkrieg war die Sowjetunion die überlegene Schachnation mit Frühförderung in den lokalen Pionierpalästen, sie stellte aus ihrem unerschöpflichen Reservoir bester Spieler und Spielerinnen stets den Weltmeister und die Weltmeisterin. Seinen sowjetischen Gegnern, die er durchgängig als „Russians“ abqualifizierte, unterstellte Fischer mehrfach Schiebung, Intrige und Verschwörung, mit der legendären Ausnahme beim Kandidatenturnier auf Curacao 1962 grundlos. In einem Interview befand er, die WM-Partien zwischen Garri Kasparow und Anatoli Karpow in den 1980er Jahren seien samt und sonders arrangiert, gegen ihn hätten die beiden „Agenten“ ohnehin keine Chance.

Diese Paranoia hat etwas Rührendes, lässt sie sich doch als Sehnsucht nach Aufmerksamkeit verstehen. Im Schach hat Fischer den Olymp erklommen, ohne hier zu Ruhe und Frieden zu gelangen – wohl deshalb, weil er nichts anderes hatte, das seinem Leben Sinn und Struktur gegeben hätte. Als er im Alter von 64 Jahren starb, schien er das gestörte Kind geblieben, das im Selbstgespräch des Spiels aufgeht. Im Schach des 21. Jahrhunderts hätte Bobby keinen Platz mehr. Die bipolare Welt ist vergangen, neben Russland und den USA dominieren Indien und China, die Ukraine und Polen, dank Internet und Datenbanken blühen Talente in der kasachischen Steppe wie im persischen Souk. Zudem sind die heutigen Profis wohlerzogen und international medienkompatibel; für sie ist das Schach ein einträglicher Job, für Fischer war es tödlicher Ernst.

Frau

Sascha geht gerne schwimmen. Sie mag die gleichmäßigen Züge im amorphen Wasser, unter dessen Oberfläche die Geräusche der Welt verschwinden. Doch bevor sie ins Becken steigt, muss sie die Schleuse der Dusche passieren. An diesem Ort, der so öffentlich wie intim ist, nimmt sie verstohlen Maß an den Anderen und setzt sich zugleich deren Beobachtung aus. Sie sieht junge Frauen in der vollen Blüte ihrer flüchtigen Schönheit und faltige Matronen, die vor dem Alter kapituliert haben. Anorektische Pubertierende mit Nabelpiercing und von Schwangerschaften ausgelaugte Mütter. Austrainierte Sportlerinnen mit definierten Muskeln und gemütliche Freundinnen, die auf Anraten ihres Orthopäden auf sanfte Bewegung setzen. Inmitten dieses Defilees fällt sie mit ihrer schmalen Silhouette nicht weiter auf, zumal ihr Badeanzug figurschmeichelnd ist.

Mit geübtem Griff zwängt sie ihren mädchenhaften Pferdeschwanz unter die Kappe aus Silikon. Auf dem Papier hält sie sich an diesem nur Frauen vorbehaltenen Ort zurecht auf. Im Rahmen eines amtsrichterlichen Verfahrens wurde in den maßgeblichen Dokumenten ihr Geschlecht zu „weiblich“ geändert. Die jahrelange Einnahme von Östrogen hat ihre Gesichtszüge weicher und die Haut seidiger gemacht und auf ihrer Brust niedliche Knospen sprießen lassen. Eine Operation hat ihr eine Neovagina beschert, die sich beim Einseifen ihres nackten Körpers sehen lassen kann. Sascha hat pharmazeutisch-chirurgisch erreicht, was angesichts ihrer anatomischen Vorgaben möglich war. Was paradoxerweise dazu führt, dass das Trans stärker betont wird als die Frau.

Ihre frühen Erinnerungen an die Kindheit kreisen um das Gefühl der Unstimmigkeit. Dass ihre Eltern und die Lehrerinnen in der Grundschule sie als Jungen anreden, hält sie für einen Irrtum, der sich auswachsen wird. Sie trägt die Mähne so lang, dass sie während einer Schultheateraufführung für ein Mädchen gehalten wird. Doch dann geht die geschlechtslose Idylle der Kindheit in die Katastrophe der Jugend über, nun nimmt ihr Leben definitiv die falsche Abzweigung. An den keimenden Rundungen ihrer Freundinnen sieht sie schmerzlich, was ihr fehlt; das Absinken ihrer Stimme und das merkliche Wachsen ihres Flaums sind für sie Aufforderung zum Rückzug. Sie meidet alle Situationen, in denen sie sich in der biologisch vorgesehenen Rolle ausprobieren könnte, den Tanzkurs, die Werkstatt, den Sportverein, das Schützenfest. Bücher bilden Reservate der Fantasie und der Kompensation, bis heute.

Sie fühlt sich in ihrem ungelenken Leib wie verkrüppelt. Sie ahnt, dass sie diese Zeit überleben muss, um ihrer Sehnsucht, eine Frau zu sein, nachgeben zu können. Sie konzentriert sich auf den Unterricht, lernt diszipliniert und tarnt ihr Inneres. Erst nach dem Abitur, in einer fremden Stadt, nach Jahren der Betäubung durch Drogen, der Arbeits- wie Beziehungsunfähigkeit und einem Verhalten der Selbstzerstörung, findet sie den Mut, sich Hilfe zu holen und einen zweiten Anfang zu wagen. Die medizinische Diagnose der Transidentität ist schnell gestellt; die ersten Schritte der Feminisierung sind für sie eine Offenbarung. Welch ein Geschenk, als unter der Hormontherapie der strenge Bocksgeruch sich löst und sie lieblich wie eine Rose zu duften beginnt. Sie trifft hiermit keine Entscheidung, sondern fügt sich in das Unausweichliche.

Dabei stellt sich heraus, dass die seelischen Veränderungen weitaus gefälliger zu erzielen sind als die physischen. So hängt die soziale Anerkennung als Frau durch die Anderen von Bedingungen ab, die sich einer individuellen Manipulation durch Kleidung, Make-up, Bodyshaping und Stimmbildung entziehen. Wenn sie im Schwimmbad unter der Dusche steht, mustert sie sich gnadenlos mit ihrem eigenen kritischen Blick: Ihre Schultern sind breit, ihre Hüften dagegen formlos, eine Taille fehlt völlig, ihre Arme schlenkern überlang, ihre Hände und Füße sind groß, die hoch aufgeschossene Gestalt kommt athletisch daher mit einem Twist ins Knochige. Das Testosteron hat zu lange Schaden anrichten können, als dass das Östrogen ihr im Nachhinein eine fraulich attraktive Optik verliehe.

Und ihre Unsicherheit spüren die Menschen instinktiv, Kinder vor allem. Sascha vermisst es brennend, von einem Mann begehrt zu werden, sie weiß nicht, was Flirten ist, geschweige denn befriedigender Sex samt Zärtlichkeit und Gehaltenwerden. Sascha hat nachholend gelernt, nach Art der Frauen zu kommunizieren – im alltäglichen Vollzug realisiert sie, dass sie sich in einer Fremdsprache äußert, durchaus auf C2-Niveau. Ihr Vokabular, ihre Modulation, ihre Gesten und ihre Mimik gehen als fraulich durch. Doch je näher sie den sozialen Erwartungen an das Weibliche kommt, umso deutlicher realisiert sie die Kluft dazwischen. Mann und Frau sind für sie die Ufer des Flusses des Geschlechtes, in dessen Mitte sie gegen das Ertrinken kämpft.

Sascha kann ihren Stamm nicht verschleiern. Ihre Garderobe ist nach den Initiationen der Röcke, Pumps und Bodys längst unspektakulär praktisch geworden, passend zu ihrem schlanken Wuchs. Schmuck und Schminke trägt sie dezent zu den gegebenen Anlässen, mit regelmäßigen Friseurbesuchen stemmt sie sich gegen das fortschreitende Weiß im Schopf. Entgegen den Wolken der queeren Theorie en vogue ist Geschlecht kein leeres Blatt Papier, das nach persönlichen Vorstellungen zu beschriften wäre. Vielmehr stellt die Natur die erste Weiche in Sachen Mann, Frau und mehr. Anatomie ist Schicksal, wie Sigmund Freud es formuliert, die nachfolgende Kultur kann das Programm der Gene allenfalls verbrämen.

Den Vorsprung der geborenen Frauen wird Sascha nicht aufholen können, sie muss ihren eigenen Schritt halten. Das ist für sie Resignation wie Gabe, auch wenn der Preis in ungewollter Einsamkeit schwer erträglich hoch bleibt. Als evolutionäre Irrläuferin führt sie ein Leben im Niemandsland, ihre Seltenheit ist wertlos. Die Gnade der Normalität bleibt unerreichbar, für ihre soziale Behinderung ist kein Nachteilsausgleich vorgesehen. Das konnte sie seinerzeit nicht ahnen, als sie sich ihren Namen wählte, der im Rückblick in purer Klarheit scheint: Im Russischen wird der Name Sascha als Koseform sowohl für Alexander als auch Alexandra verwendet.

Oligarchie

Die Oligarchie steht wörtlich für die Herrschaft der Wenigen (aus dem griechischen oligos = wenig und dem griechischen archein = herrschen). In der politischen Philosophie taucht der Begriff erstmals in Platons „Politeia“ in der Diskussion um die beste Staatsform auf. Sie wird dort definiert als „die Verfassung, die auf der Einschätzung des Vermögens beruht. In ihr herrschen die Reichen, der Arme dagegen hat keinen Anteil an der Regierung.“ (550 d) Aristoteles spricht in seiner „Politika“ von der Oligarchie als einer Ausartung der Aristokratie, die den Vorteil der Reichen verfolge, ohne dem Wohl der Gesamtheit zu dienen. (1279 b)

Der Oligarch hat es ins russische Wörterbuch der Gegenwart geschafft. Er bezeichnet nach Boris Nemzow, der in den 1990er Jahren als Gouverneur von Nishni Nowgorod im Übergang zur Marktwirtschaft die Anwerbung westlicher Investoren verantwortete, eine schmale Schicht russischer Geschäftsleute, die während der Privatisierung der gigantischen Staatsmonopole (speziell der Öl- und Gasindustrie sowie der Stahl- und Aluminiumbranche) aus dem Nichts zu Milliardären aufstiegen. Sie verfügten über ausreichend Liquidität, die an die Bevölkerung ausgegebenen Coupons zum Erwerb von Anteilen ausgewählter Staatsbetriebe zu kaufen und in wenigen Händen zu akkumulieren. Sie mischten sich in die Gesetzgebung des kranken Präsidenten Boris Jelzin ein und finanzierten die Kampagne zu seiner Wiederwahl 1996.

Beim Aufbau ihrer märchenhaften Vermögen profitierten sie von Schwarzmarkterfahrungen in der Spätphase der Sowjetunion, von Insiderwissen über geplante wirtschaftliche Entscheidungen der Regierung, bestehenden Kontakten zu internationalen Kreditgebern sowie einem permanent steigenden Ölpreis und damit der Hausse ihrer Aktien. Hinzu kam eine kriminelle Skrupellosigkeit im Umgang mit Wettbewerbern, die das Wort der „Piratisation“ prägte. Ihren Reichtum und den damit verbundenen Einfluss auf die Politik sicherten sie durch den Zugriff auf die Banken, die Logistik und die Medien Russlands. Die bekanntesten Oligarchen waren resp. sind Roman Abramowitsch, Boris Beresowski, Michail Chodorkowski, Oleg Deripaska, Michail Fridman, Wladimir Gusinski, Witali Malkin und Wladimir Potanin.

Während der Casinojahre unter Boris Jelzin konvertierten die Oligarchen ihre ökonomische Macht in politische. Sie gingen irrtümlicherweise davon aus, den 1999 als Ministerpräsidenten installierten Wladimir Putin ebenso nach ihren Wünschen steuern zu können. Zu dessen ersten Schritten im Jahr 2000 als Staatspräsident (nach der Generalamnestie seines Vorgängers) zählte der Befehl an die Oligarchen, sich fortan aus der Politik herauszuhalten. Er zwang Boris Beresowski und Wladimir Gusinski, ihre Anteile an den Energieunternehmen an den Staat zu verkaufen, auch stellte er ihren Einfluss auf die Fernsehsender ab. Beide gingen ins Ausland, Beresowski starb 2013 in England unter nicht geklärten Umständen.

Michail Chodorkowski, CEO des weltgrößten Ölkonzerns Jukos, der die chronische Korruption im Land anprangerte, wurde 2003 unter dem Vorwurf der Steuerhinterziehung verhaftet, enteignet und für zehn Jahre ins Arbeitslager gesperrt; Jukos geriet unter staatliche Kontrolle. Die verbliebenen Oligarchen gaben klein bei, errichteten ihren Tribut an den neuen Kremlherrn und konnten ihre zum Teil ins Ausland transferierten Gelder behalten. Auch im Jahre 19 der Herrschaft Putin behält der Begriff der Oligarchie seine sarkastische Berechtigung zur Skizzierung der politischen Verfassung des Landes: Des Präsidenten loyale Weggefährten werden mit hohen Regierungsämtern oder Vorstandsposten dominanter Rohstoffhändler belohnt, ihre administrative Macht nutzen sie reziprok zur exzessiven Vermehrung persönlichen Wohlstands.

Eine nach westlichen Maßstäben pluralistische Gesellschaft mit Parteien, Vereinen, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie Rechtssicherheit, funktionierender Infrastruktur, Gesundheitsversorgung und effizienter Verwaltung existiert in Russland bestenfalls in Ansätzen. Eine freie Presse gibt es nicht, digitale Medien werden agitatorisch geflutet, Justiz und Polizei arbeiten nicht unabhängig. Das Arbeitstempo der Behörden korreliert mit der Höhe der Bestechungen, innovative Gründer werden bürokratisch gegängelt, regierungskritische Stimmen werden erstickt. Die russische, in New York arbeitende Journalistin Masha Gessen hat rekonstruiert, wie in den frühen 2010er Jahren das gesetzliche Verbot „homosexueller Propaganda“ ein vergiftetes Klima der Denunziation und der Gewalt förderte, das liberale, gut ausgebildete Intellektuelle in die USA, nach Israel oder Deutschland emigrieren ließ.

Das Regime schreckt im Bedarfsfall auch vor Mord nicht zurück. Am 6. Oktober 2006 wurde die Journalistin Anna Politkowskaja in Moskau erschossen. Sie hatte zu Menschenrechtsverletzungen während des Krieges in Tschetschenien recherchiert. Am 27. Februar 2015 wurde Boris Nemzow in Moskau getötet. Der Oppositionspolitiker, in den 1990er Jahren stellvertretender Ministerpräsident und potenzieller Jelzin-Nachfolger, hatte Putin über Jahre Wahlfälschung und Rechtsbeugung vorgeworfen. Der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow, der 2008 mit Boris Nemzow die Bewegung Solidarnost gegründet hatte, lebt nach mehreren Inhaftierungen seit 2013 im Exil in New York. Der Moskauer Rechtsanwalt und Blogger Alexei Navalny, der mit seinem engagierten Team Studien zur hemmungslosen Gier der Putin-Clique im Internet veröffentlicht, dürfte das nächste Opfer eines Auftragskillers werden.

Putin will mindestens bis 2024 im Amt des russischen Präsidenten bleiben, dann wird seine vierte Legislatur enden. Die Kommandeure von Polizei, Armee und FSB sind ihm weiter treu ergeben. Beim einfachen Volk setzt Putin zur Mehrung des Prestiges, neben sportlichen Großereignissen wie den Olympischen Winterspielen 2014 in Sotchi oder der Fußball-WM 2018, auf außenpolitische Coups wie den endlosen Krieg in Syrien und die Annexion der Krim 2014. Sein unfassbar brutaler Ahne im Kreml, Josef Stalin, erfährt unter ihm eine offene Rehabilitierung; Putin lässt sich ebenso wie der rote Diktator als Woschd, als Führer titulieren, der für Ordnung und Stabilität in einer Welt voller Feinde sorgt und des Reiches Größe sichert.

Diese Konstruktion einer Tradition der Härte soll wohl seine schwache Legitimation durch manipulierte Wahlen kompensieren. Allerdings wird es spätestens seinem Nachfolger zum Problem werden, dass Russlands Wirtschaft weiterhin vom Verkauf von Rohstoffen abhängig ist und es seit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 nicht vermocht hat, auch auf technologischem Feld sich am Weltmarkt zu etablieren wie etwa China. So wirkt Putins eiserne Herrschaft der Panzer und Raketen wie eine UdSSR 2.0, nur dass sich ihre Nomenklatura nicht mehr aus der KPdSU rekrutiert, sondern aus der Verwaltung, den Geheimdiensten und dem Militär.

Deren Anliegen ist es, von der politischen Herrschaft auch ökonomisch zu profitieren. Dazu muss sie nur Wladimir Putins imperiales Gehabe mittragen und sich nicht in Forderungen nach Demokratie, Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit vernutzen. In ihren Augen wird die Macht der Exekutive nicht auf Zeit verliehen, um, vom Parlament beaufsichtigt, zum Wohl der Allgemeinheit zu arbeiten. Vielmehr stellt sie ein privilegiertes Instrument zur Ausplünderung des Landes und seiner Bevölkerung dar – eine moderne Definition der Oligarchie. So steht das Russland des 21. Jahrhunderts in trauriger Kontinuität zum Zarenreich der Romanows wie zur Sowjetunion.

Tavor

Vor zwei Jahren starb ihre Mutter. War ihr Tod nach einem langen Leiden an multiplen Erkrankungen auch eine Erlösung, vermisst Kerstin sie bis heute. Sie geht trauernd ihren Weg, die Stufen zu nehmen fällt ihr schwer, weil sie höher geworden sind. Als das Zimmer im Pflegeheim, in dem sie die letzten anderthalb Jahre ihres Lebens verbracht hatte, ausgeräumt wurde, packten die Pflegerinnen (m/w/d) neben Büchern, Kleidern, Fotos und Papieren auch die verbliebenen Medikamente ihrer Mutter in die Koffer, Taschen und Kisten. Als Kerstin Wochen später darin stöberte, stieß sie auf ein fast volles Röhrchen Tavor.

Der Wirkstoff Lorazepam, der unter dem Markennamen Tavor vertrieben wird, gehört zu den Benzodiazepinen, jenen „Psychopharmaka aus der Gruppe der Tranquilizer mit anxiolytischer, sedativer, muskelrelaxierender und antikonvulsivischer Wirkung“, wie der Pschyrembel informiert. Tavor ist medizinisch indiziert bei Angst- und Spannungszuständen sowie zur Kurzzeittherapie schwerer Schlafstörungen, in der Neurologie wird es bei epileptischen Anfällen verabreicht. Viermal im letzten Jahr war ihre Mutter unter Strapazen ins Krankenhaus eingewiesen worden, wegen einer Lungenentzündung und eines eskalierenden Dekubitus. Kurz vor Weihnachten äußerte sie im Gespräch mit ihrem Hausarzt den Wunsch, fortan in ihrem Zimmer im Heim zu bleiben. Eine gegebenenfalls anstehende künstliche Ernährung und apparative Beatmung lehnte sie explizit ab. Die Umstellung der Versorgung auf eine palliativmedizinische beinhaltete unter anderem die Bereithaltung angstlösender Substanzen.

Neugierig nahm Kerstin eine kleine weiße Pille. Als die Wirkung nach einer runden Stunde anflutete, wusste sie sofort, dass sie ihre Droge gefunden hatte. Sie fühlte sich erleichtert, als hätte man ihr eine enge Bleiweste von den Schultern genommen. Ihr Atem beruhigte sich, ihre Gesichtsmuskeln lockerten sich, das Pochen des Herzens bis in den Hals flaute ab. Ihre Gedanken drückten nicht länger quälend ihre Stirn, ihre Seele taute auf. Ihre chronische Furcht, für ihre Sehnsucht nach Nähe verurteilt und mit Einsamkeit bestraft zu werden, zerstob. Ihr Körper schien ihr nicht länger eine fremde Masse, sondern ein warmer Organismus, der sich an sich selbst erfreut. Das größte Geschenk, das Tavor ihr macht, ist eine Nacht ohne Wachliegen, schmerzendes Grübeln und nervöses Umherwälzen. Sie wacht mit dem Klingeln des Weckers auf, trunken vom Schlaf und vom Lorazepam; der Drogenkater, der sich im leicht febrilen Schwindel äußert, nimmt dem Tagesbeginn die Härte. Die eingeschränkte Konzentrationsfähigkeit wird kompensiert durch eine milde Euphorie.

Immer wieder kommen Bilder der Bestattung der Urne hoch. Kerstin war überwältigt von der schieren Anzahl der Menschen, die sich von einer alten Freundin, einer ehemaligen Kollegin, einer vertrauten Nachbarin verabschieden wollten. Während der Eucharistiefeier in der Kirche, auf dem Friedhof im Nieselregen am offenen Grab und bei der Kaffeetafel im Gasthaus zählte sie etwa 120 Trauergäste. Eine Frau jenseits der 80 sagte ihr, dass sie und ihre Mutter 67 Jahre eng befreundet gewesen seien. Eine andere Dame im gleichen Alter erwies sich im Gespräch als Gefährtin der Klosterschule. Drei zurückgelassene Freundinnen, die mit ihrer Mutter über viele Jahre ins Theater gegangen waren, bestätigten Kerstin, sie habe exakt ihre Augenpartie. Ihrer Mutter hätte dieser Abschied voller froher wie wehmütiger Erinnerungen sicher gefallen, sie stand im Zentrum durch ihre Abwesenheit.

Kerstin gedenkt besonders der letzten Wochen, als ihre Mutter das Sterben zu erwarten schien. Sie war schon lange bettlägerig, aß und trank nur noch wie ein Spatz, lutschte eine Löffelspitze Honig, konnte nur unter Mühen sprechen. Als Kerstin ihr weinend sagte, sie wollte nicht, dass sie gehe und sie allein zurücklasse, antwortete sie ernst und lächelnd, dass sie das nicht zu entscheiden habe. Ergeben in Gottes Willen, das schien ihre Haltung zu sein; bei aller Lebensfreude akzeptierte sie das nahe Ende. Sie saß lange am Bettrand, hielt ihre dürr und kalt gewordene Hand und wollte sie partout nicht hergeben. Als ihr eines Abends eine Pflegerin einen Therapiehund auf die Bettdecke setzte, lachte ihre Mutter vor Freude über diesen belebenden Besuch der grundgütigen Kreatur und tätschelte ihr weiches Fell. Und keine Woche vor dem Tod schickte sie Kerstin mit geflüsterten, aber klar artikulierten Worten aus dem Zimmer: Sie wolle sterben, und müsse dafür allein sein.

Was gäbe Kerstin dafür, hätte sie den Optimismus ihrer Mutter selbst im Angesicht des Todes. Ihre eigene Existenz wird ihr durch Tavor erträglicher, ohne dass sich durch das Präparat die deprimierenden Umstände änderten. Kerstin gibt sich dem sanften Rausch der Pharmakologie willig hin, dem Risiko einer Abhängigkeit zum Trotz. Den Zustand des Leidvergessens erreicht sie nach langem Lesen, durch Bewegung, in der Kontemplation und beim Schach. Allerdings muss sie dafür etwas tun, diese Exerzitien sind störanfällig durch andere Menschen, deren lärmende Gegenwart Kerstin immer schwerer aushält. Tavor zieht einen Schleier vor die verkommene Welt, lässt die Sonne schneller untergehen und hilft beim Vollzug der Tagesfron. Das Schlucken der Tablette kommt Kerstin wie die Kommunion einer ihrer Mutter geweihten Hostie vor. Nicht umsonst sangen die Rolling Stones in den 1960er Jahren, als Lorazepam chemisch isoliert wurde, in Bezug auf Tranquilizer von „Mother’s little helper“.

Neben ihrem Schreibtisch hängt eine Schwarz-Weiß-Fotografie ihrer Mutter. Auf dem Bild ist sie etwa 16 Monate alt und hält sich am Geländer eines Laufstalls fest, den Blick dem Betrachter (m/w/d) zugewandt. Mit ihrer Mutter ist der einzige Mensch, der an ihrem verkorksten Leben und ihren kranken Gefühlen ehrlich Anteil genommen hat, fort. Nun bleibt Kerstin noch das Selbstgespräch, katholisch formuliert das Beten. Sie fragt sich, ob ihre Mutter ihre Stimme beim Versuch eines Kontaktes über den Tod hinaus hört. Sie zündet daheim Kerzen aus Bienenwachs an, als Gabe an die Imkerin, die ihre Mutter war. Wenn sie ihr Grab besucht, stellt sie ein Kompositionslicht in die Laterne und legt zwei Rosen daneben, meist weiße, mal rote. Die Bibel auf ihrem Schreibpult stammt aus der Bibliothek ihrer Mutter, der wollene Schal für den Winter aus ihrer Garderobe, die Perlenkette um den Hals aus ihrer Schatulle. So bleibt sie über Rituale und persönliche Gegenstände in Kerstins Welt präsent. Und zur Wundbehandlung hat sie Tavor, Mutter sei Dank.

Tempolimit

Auto-Deutschland erlebt turbulente Zeiten. Zuerst kam der systematische Betrug bei der Messung der Abgase durch eine manipulierte Software bei deutschen Herstellern ans Licht, dann verhängten zahlreiche Verwaltungsgerichte wegen dauernder gesundheitsgefährdender Überschreitung der Stickoxid-Grenzwerte Fahrverbote für Diesel-PKW in den Städten. Und zu allem Überfluss empfiehlt nun noch eine Kommission, einberufen vom Bundesministerium für Verkehr, ein Tempolimit von 130 km/h auf heimischen Autobahnen.

Ein Tempolimit (vom italienischen tempo, was so viel bedeutet wie Zeitabschnitt, in moderner Bedeutung auch Geschwindigkeit, und vom französischen limite, der Grenzlinie) ist eine generell geltende Geschwindigkeitsbegrenzung auf öffentlichen Straßen. Innerhalb wie außerhalb geschlossener Ortschaften ist die Höchstgeschwindigkeit für PKW und LKW geregelt. Von dieser Vorschrift sind Autobahnen ausdrücklich ausgenommen, dort darf potenziell so schnell gejagt werden, wie es die fahrenden Waffen hergeben (StVO § 3, (2), 2.).

Kaum hatte die genannte Kommission, die nach verkehrsrelevanten Mitteln und Wegen zur Senkung der Schadstoffbelastung der Atemluft suchen sollte, ihren Vorschlag gemacht, wurde sie vom verantwortlichen Bundesminister abgewatscht. Wer es wagt, an das Goldene Kalb (Ex 32,1-6) der Deutschen zu rühren, bekommt den geballten Zorn der ganz großen Koalition aus CDU/CSU, SPD, FDP, VDA, ADAC und BILD zu spüren. Diese orientiert sich willfährig an den anheimelnden Claims der Produzenten wie „Vorsprung durch Technik“ oder „Freude am Fahren“ sowie am altbackenen Motto der größten Lobby in Deutschland, „Freie Fahrt für freie Bürger“. (20 Mio. Mitglieder im ADAC, Stand 2017.)

Auf jedem dritten Podium wird mittlerweile der Verkehrswende das Wort geredet. Ein smarter Mobilitätsmix aus Bus, Bahn, Fahrrad und Auto soll die Qualität der Atemluft verbessern, den Motorenlärm mindern, Unfallzahlen senken, die Staugefahr verringern und den Platz in den Städten vergrößern. Geht es jedoch konkret um die Einschränkung des privilegierten PKW, kneift noch jeder Politiker (m/w/d), der an seine Karriere glaubt. So stößt das naheliegende wie medizinisch sinnvolle Tempolimit auf Autobahnen auf parteiübergreifende Ablehnung. Jedes Industrieland kennt es, selbst die überindividualisierten USA achten es. Einzig Deutschland weiß sich im Fehlen eines solchen einig mit sinistren Ländern wie Afghanistan, Myanmar, Nordkorea und Somalia.

Die fetischistische Beziehung zum eigenen Auto ist ein negativer Aspekt deutscher Kultur; hierzulande sachlich über die kollektiven Kosten und Risiken individueller Motorisierung zu sprechen, ist ebenso undankbar wie der Versuch, in den USA die Begrenzung des Zugangs zu kriegstauglichen Schnellfeuergewehren oder in Russland den reglementierten Verkauf von Wodka zu fordern. Es ist politisch gewollt (Richtlinienkompetenz der Bundeskanzlerin, Artikel 65 GG), dass tonnenschwere Geschosse mit 240 km/h und mehr über die Spuren fegen und bei Unfällen verlässlich schwächere Verkehrsteilnehmer verkrüppeln und töten. Schließlich müsse die internationale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Anbieter gewährleistet bleiben, wie es aus München, Stuttgart und Ingolstadt tönt.

Was in anderen Ländern schon lange Realität ist – staatlich geförderter Ausbau der Fahrradinfrastruktur (Skandinavien), Priorisierung der Schiene und des ÖPNV (Schweiz), Parkraumbewirtschaftung (Niederlande, Großbritannien) -, bleibt in Deutschland Utopie. Hier ist der Verkehr wie weiland 1972 ein Synonym für den Autoverkehr, dem sich alle anderen Verkehrsarten und -teilnehmer (m/w/d) unterzuordnen haben. Kein Land hat sich im 20. Jahrhundert so bedenkenlos in die Abhängigkeit der schmutzigen Branche begeben; nun hängen die Deutschen, geboren wie zugewandert, am Benzin wie die Junkies am Morphin und lassen sich von der Werbung einreden, sie erführen sich Unabhängigkeit.

Wer jemals in Frankreich, Spanien, Polen oder der Ukraine auf den Fernstraßen gefahren ist, wird die Abwesenheit der deutschen Aggressivität an Steuer und Pedal als Gnade erleben. Der selbst induzierte Stress im Fegefeuer der Überholspur entfällt, Autofahren ist andernorts noch Cruisen. Auf die Einsicht der Verbraucher zu setzen, ist in Deutschland vergeblich – hier wird Freiheit definiert über die Lizenz zum Geschwindigkeitsrausch. Die Geschichte weiß bislang von keinem Fall, in dem ein Tempolimit Auslöser einer Revolution gewesen wäre; andere Völker beten oder demonstrieren, die politiklosen Deutschen rasen.

Die deutsche Automobilindustrie hat im Jahr 2017 einen Umsatz von 422,8 Mrd. Euro erwirtschaftet, auf 1.000 Einwohner kommen hier 610 PKW (EU-Durchschnitt: 587). Sich mit diesem auf ewiges Wachstum ausgerichteten Fossil anzulegen, um etwa international verbindliche Klimaziele zu erreichen, traut sich keine Partei. Vor diesem Hintergrund wird die beleidigende Antwort des zuständigen Ministers zur angeregten Einführung des Tempolimits („gegen jeden Menschenverstand“) nachvollziehbar: Schiere Panik regiert angesichts des absehbaren Ölendes, das eine dramatische Schrumpfung einer überkommenen Branche zur Folge haben wird. Anstatt nach intelligenten Lösungen einer menschengerechten Mobilität zu suchen, legen die Manager behände Scheuklappen an.

Tantalos

Kerstin liebt den Winter. In den dunklen Monaten fühlt sie sich geborgen, das Leben findet im Probemodus der Fantasie statt, sie ist aufmerksam und schöpferisch wie selten. Wenn es beim Weckerklingeln draußen noch tiefschwarz ist, bleibt der Schutz von Schlaf und Traum bis weit in den Morgen erhalten, auch kommt er zeitig zurück, noch bevor der Nachmittag in den Abend übergeht. Doch ist es ein unabänderliches Gesetz, dass das Licht jeden Tag um ein paar Minuten zurückflutet, die Sonne steht mit jedem neuen Tag nicht nur etwas länger, sondern auch höher am Himmel. Der Vorhang der Wolken lässt immer mehr blendende Strahlen durch, der Frühling mit seinem Aufbruch droht, und es gibt keine Möglichkeit, sich ihm zu entziehen. Nicht nur weil die wachsende Helligkeit ihre Migräneattacken begünstigt, nimmt ihre seelische Unruhe zu.

Auch die letzten Sterne und Lichterketten in den Fenstern der Wohnungen sind fort, die Krippen in den Kirchen schon lange abgebaut, am Straßenrand schimmeln noch vergessene Tannenbäume. Der Zauber des Stillstands der Raunächte zwischen Weihnachten und Epiphanie ist längst aufgebraucht, die Innigkeit der Feiertage und der Überschwang von Silvester sind schon vor Wochen dem üblichen Missmut der Konkurrenz gewichen. Kerstin stemmt sich instinktiv gegen das Verstreichen der Zeit, sie zündet weiter ihre Bienenwachskerzen an, dreht kontemplativ ihre Sanduhr um und erfreut sich am süßen Duft der Räucherstäbchen. Sie ist gern daheim, wo das Leben keine Gefahr darstellt. Die langen Abende verbringt sie in Gesellschaft von Büchern, deren Schweigen sie hegend in die Gnade der Nacht geleitet.

Kerstin freut sich, wenn sie in ihre schweren Bergstiefel steigt, die ihr am Fels, im Wald und auf dem vermatschten Pflaster der Stadt gute Dienste leisten. Der Griff zu Schal und Handschuh beim Verlassen des Hauses geschieht längst routiniert, beim Radfahren hat sie die Radwege meist für sich allein. Und die Menschen um sie herum sind ebenso fest eingepackt in ihre Wintergarderobe, die mehr von Funktionalität und weniger von Mode geprägt ist; sie tragen knielange Mäntel in Schlafsackoptik und in fahlen Tönen, ihre Köpfe verschwinden unter zeltgroßen Kapuzen, die Silhouetten ihrer Körper sind nur zu erahnen unter den mehrfachen Lagen wärmenden wie vermummenden Textils. Jeder (m/w/d) friert für sich allein, niemand stellt eine Verführung dar.

Im Frühling wird sie sich dann hilflos fühlen, wenn die Temperaturen schon zur Tag- und Nachtgleiche in die Höhe springen, das Licht gleißt, an jeder dritten Ecke die Straßencafés voll besetzt sind und die Menschen zärtelnd und flirtend und wie erlöst im Freien feiern. Inmitten der jungen, schönen und gesunden Männer und Frauen kommt sie sich wie Tantalos vor, der bis zum Hals im Wasser steht und quälenden Durst leidet. Doch sobald er den Kopf senkt, um zu trinken, verrinnt das Wasser mit einem Schlag. Unmittelbar in Reichweite neigen sich Äste mit köstlichen Trauben, Feigen, Äpfeln und Birnen, doch sobald er die Hand nach ihnen ausstreckt, werden die Früchte von einem Windstoß weggeweht. (Odyssee, XI, 582–592) Die perfide Pein liegt in der lockenden Gegenwart der nicht für Kerstin bestimmten Genüsse.

Sie weiß nicht, für welches Vergehen das Gericht des Lebens sie so grausam straft wie Tantalos aus der griechischen Mythologie. Sie hat sich ihre Geschlechtslosigkeit nicht erwählt, sie ist ausgebrochen wie bei anderen eine Psychose oder eine Multiple Sklerose. Jeder offene Frühling ist für sie aufs Neue eine Widerlegung ihrer mangelhaften Existenz. Sie ist umgeben von makellosen Leibern, halb nackt und für die Liebe geschaffen, deren Vollzug in der Öffentlichkeit einem Akt des Triumphes über die Schatten gleichkommt. Wenn Kerstin in der Sonne am Seeufer entlangspaziert, weil auch ihr Herz das Blut in die letzten Zellen sendet, wird sie von den jauchzenden, lachenden und vor Glück schäumenden Menschen weder beachtet noch ignoriert – die Welt der Alten, Einsamen und Hässlichen kommt in den Augen der Schönheit schlicht nicht vor.

Kerstins resignierte Zustimmung zu einem Leben ohne Liebe, Partnerschaft und Teilhabe fällt ihr im Halbjahr der Vergänglichkeit leicht; Nebel, Frost und Dunkelheit sind ihre Elemente, die ihre Scham vor den hämischen Blicken der Erfolgreichen verbergen. Geht es aber mit Riesenschritten auf die Sommerzeit zu, wird ihr schmerzlich klar, dass ihr Leben ein Triathlon der Entsagung ist mit den Disziplinen des Sublimierens, des Fantasierens und des Kompensierens. Wenn die Menschen beim Knospen der Blüten wie Bienen ausschwärmen und sich dem Sog des Bios überlassen und das Spiel der Attraktivität genießen, sehnt Kerstin sich nach Stille und Dämmer. Selbst in der Messe gilt das Gesetz der Perfektion: Beim Friedensgruß nach dem Vaterunser küssen sich die jungen Paare innig ab, bevor sie sich mitleidig dazu herablassen, den Ballastexistenzen die Hand zu reichen.

Kerstin kann gut mit sich alleine auskommen, eine treuere Freundschaft als die zu sich selbst hat sie ihr Lebtag nicht gekannt. Diese Ressource hilft ihr auch, wenn ringsherum die Zeichen auf Vereinigung stehen. Doch unterläuft ihr Organismus ihre klösterliche Disziplin bevorzugt in der Hemmungslosigkeit des Frühlings; sie hat alle Spielarten der Askese vom Beten über die Meditation bis zum Fasten probiert, um die Sehnsucht nach Nähe, Zärtlichkeit und Sex in sich zum Verstummen zu bringen, um nicht von einem unstillbaren Verlangen à la Tantalos gemartert zu werden. Im Advent genügt sie sich selbst beim Wandern auf Skiern unter verschneiten Bäumen, geht es aber auf Ostern zu, schmerzen die Verlockungen in Form entzückend gekleideter, brunftig riechender Körper hoffnungslos. Das brutal gereizte Verlangen bleibt heillos unbefriedigt, beim Tanz des Lebens ist sie dem Glück der Anderen ausgesetzt.

Soweit ihr verkrüppelter Körper es zulässt, sucht sie das Vergessen im Sport. Beim Schwimmen, Radfahren und Laufen werden nach einer gewissen Zeit Endorphine, die den Sexualhormonen biochemisch eng verwandt sind, ausgeschüttet. Sie sorgen für einen Zustand wohliger Ermattung, tendenziell der Betäubung nach dem Orgasmus vergleichbar. Von Sexualität will sie gar nicht sprechen, besser von Selbsthilfe, da sie auch beim Training allein ist. Eine letzte Gewissheit bleibt ihr: Wenn die Aussätzige die Blendung durch die Gesunden meidet, erspart sie sich die Enttäuschung der Zurückweisung. Im freiwilligen Ausschluss aus der Gemeinschaft liegt ihre Selbstbestimmung, ohne die sie nicht länger atmen wollte. Dessen ungeachtet freut sie sich noch vor Mariä Lichtmess auf die Sommersonnenwende, dann werden die Tage wieder kürzer.